Wurzelgemüse im kulinarischen Aufwind
Sie wachsen verborgen unter der Erde, und lange wurden sie auch kulinarisch kaum wahrgenommen. Das ändert sich mit der neuen Wertschätzung für regionales, saisonales Gemüse.
Das Gemüsereich ist eine Klassengesellschaft. Ganz oben stehen ein paar bewunderte Edelgemüse, allen voran der Spargel, der jedes Jahr sehnsüchtig erwartet und in der Presse bejubelt wird. Gemüse wie Tomaten, Zucchini oder Kürbis bilden die breite Mittelklasse, an der man kaum vorbeikommt. Und ganz unten in der Gemüsehierarchie finden sich die diversen Wurzeln und Knollen: Möhre und Pastinake, Rote Bete und Sellerie, Petersilienwurzel und Rübchen.
Gemüsesorten mit Bodenhaftung
„Ohne Wurzelgemüse keine Spitzengastronomie.“
Es sind bescheidene Gemüsesorten, die nie die Bodenhaftung verloren haben. Das macht sie über weite Strecken des Jahres fast unsichtbar. Wenn am Gemüsestand knackig-grüne Erbsenschoten, rote Tomaten oder regenbogenbunter Mangold leuchten, wer hat da noch Aufmerksamkeit für ein paar Pastinaken übrig, an denen der halbe Acker haftet? Oder für den Knollensellerie, der aussieht wie die Kreuzung zwischen einem Fußball und einer Kokosfaser-Fußmatte?
Es ist leicht, über die Wurzeln und Knollen die Nase zu rümpfen. Aber sie sind die Basis der guten Küche. Was wäre eine feine Brühe, was ein klassischer Schmorbraten, was ein kräftiger Linseneintopf ohne Möhre, Sellerie und Petersilienwurzel?
Die Dauerhaften
„Wurzelgemüse in’s Rampenlicht!“
Und ehrlich gesagt: In unseren Breiten könnten alle Fans saisonaler und regionaler Küche ohne Wurzelgemüse mindestens vier Monate des Jahres Winterschlaf einlegen – mit knurrendem Magen oder zumindest ziemlich eintöniger Kost. Denn genau die Robustheit, die diesen Gemüsesorten den Aufstieg in die verzärtelte Adelsklasse von Spargel und Zuckerschoten verwehrt, macht sie problemlos lagerfähig. So sorgen Rote Bete, Möhren und Steckrüben in den Kohl-und-Kartoffel-Monaten für abwechslungsreiches Comfort Food – und für reichlich Farbe, die sich bei vielen ihrer Art unter der erdbraunen Schale zeigt.
Zum Glück bekommen diese grundsoliden Wurzeln und Knollen langsam ein bisschen mehr verdiente Anerkennung. Und das ist sicherlich auch dem Trend regionaler, saisonaler Küche zu verdanken. In den letzten Jahren sind ein paar vergessene Gemüse zu neuer Popularität gelangt, und Neuzüchtungen haben das Angebot zusätzlich vergrößert. Jetzt kommt es tatsächlich vor, dass in der Gemüseabteilung Möhren in allen Regenbogenfarben liegen – und zwar ganz vorne im Rampenlicht. Höchste Zeit für eine kleine Vorstellungsrunde!
Möhre
„Urkarotte trifft Falafel.“
Was ist vielfältiger: die Bezeichnungen für die Möhre oder die Bandbreite an Farben und Formen? Fest steht, dass das Gemüse im deutschen Sprachraum viele verschiedene Namen hat: Möhre, Karotte, Wurzel, Wortel, Gelbe Rübe, Rüebli … Gemeint ist immer die Pfahlwurzel eines Doldenblüters, die je nach Sorte rund oder lang geformt ist und alle Schattierungen von weiß bis fast schwarz aufweisen kann. Trotz dieser Bandbreite gab es bei uns lange vor allem lange, orangefarbene Möhren zu kaufen. Dabei stammt diese Farbschattierung erst aus dem 18. Jahrhundert und wurde wohl zu Ehren des holländischen Königshauses gezüchtet. Schon die Griechen und Römer aßen weiße Möhren; aus Asien gelangten gelbe und rote bis violette Sorten zu uns. Dass diese Farbvielfalt nun auf die Märkte zurückkehrt, liegt allerdings vor allem an Neuzüchtungen, die aussehen wie alte Sorten, aber in puncto Ertrag so leistungsfähig sind wie moderne. Vor allem ist dadurch eine große Bandbreite an Aromen erhältlich: besonders intensiv und süßlich schmeckt die lilafarbene „Urmöhre“, weniger süß sind die gelben und weißen Varianten.
Pastinake
Sie sieht ein bisschen aus wie eine weiße Möhre, aber das Gewebe dieser Rübe ist etwas schwammiger und verströmt schon beim Anschneiden einen intensiv-würzigen Duft. Eine uralte Kulturpflanze, gehörte die Pastinake bei uns lange zu den am häufigsten gegessenen Gemüsesorten, bis sie durch Kartoffel und Möhre verdrängt wurde. Nun kehrt sie zurück und überzeugt Feinschmecker durch ihr Aroma und eine feine Süße, die sich durch Backen oder Karamellisieren besonders gut zutage fördern lässt.
Petersilienwurzel
Auf den ersten, flüchtigen Blick sieht die Petersilienwurzel der Pastinake zum Verwechseln ähnlich. Schaut man näher hin, stellt man fest, dass ihr an der Ansatzstelle des Blattgrüns der charakteristische wulstige Rand der Pastinake fehlt. Petersilienwurzeln sind außerdem häufig kleiner als Pastinaken – dafür steckt in ihnen noch mehr aromatische Würze. Das macht sie unverzichtbar beim Brühekochen, aber es lohnt sich durchaus, dieser Wurzel einmal einen Soloauftritt zu gönnen.
Knollensellerie
Der bescheidene Verwandte des knackigen Staudenselleries gehört ebenfalls zu den Rüben: Das kugelige Gemüse ist ein unterirdisch wachsendes Speicherorgan. In der Küche taucht Knollensellerie meist in Nebenrollen auf, indem er Brühen und Schmorgerichten ein volles Aroma verleiht. Aber wer es dabei bewenden lässt, unterschätzt das Potenzial des Knollenselleries. Seine Würze kommt auch solo bestens zur Geltung. Und wird er gar einem ähnlich knurzelig-unscheinbaren Gesellen an die Seite gestellt, spielt er sich auf direktem Weg in die Königsklasse: Sellerie und Trüffel sind ein wahres Traumpaar der feinen Küche.
Bete
Die Rote Bete (auch Rote Rübe oder Rande) hat in den letzten Jahren Schwestern bekommen: die Gelbe Bete und die rot-weiße Ringelbete. Das Trio hat es damit nicht nur auf Instagram zu Popularität gebracht. Was für ein Aufstieg! Noch vor dreißig, vierzig Jahren kam Rote Bete vor allem sauer eingelegt im Glas vor oder aber im norddeutschen Gericht Labskaus – beides irgendwelcher Gourmet-Ambitionen vollkommen unverdächtig. Inzwischen haben sich die Beten mit ihrer Farbe auch in Feinschmeckermenüs einen Platz erobert – und dabei hat sich herausgestellt, dass der erdverbundene (okay, früher haben wir gesagt: erdige) Geschmack in den richtigen Kombinationen ganz köstlich ist.
Steckrübe
Deftiger geht es kaum: Die Steckrübe (auch Kohlrübe oder Wruke) ist mit dem Raps näher verwandt als mit Möhren und Pastinaken, und ihr gelbes Fleisch schmeckt deutlich nach Kohl. Im „Steckrübenwinter“ 1917/18 musste sie, weil es kaum etwas anderes gab, als Ersatz für alles vom Kaffee bis um Apfelmus herhalten – ihr Image hat sich davon nie wieder erholt. Nur in Norddeutschland hat sich eine Küchentradition deftiger Steckrübeneintöpfe und -muse erhalten. Kreative Köchinnen und Köche haben allerdings inzwischen die Herausforderung angenommen, die Steckrübe in die feine Gesellschaft einzuführen.
Mairübchen
Hier ist es, das Familienmitglied, das den sozialen Aufstieg vor allen anderen geschafft hat. Schon die Verkleinerungsform „Rübchen“ hebt es aus der Schar der rustikalen Verwandten heraus, und wenn es strahlend weiß und meistens blitzblank gewaschen am Marktstand auftaucht, scheint es so gar nichts mit den anderen Rüben zu tun zu haben. Tatsächlich hat sich das Mairübchen einfach der Spargelstrategie bedient: saisonale Verknappung und Konzentration auf junge, knackige Exemplare. Funktioniert bestens! Mairübchen schmecken süßlich mit leichter Rettichschärfe und sind eine wahre Frühjahrsdelikatesse.
Süßkartoffel
Mit der Süßkartoffel oder Batate verlassen wir die Rübenfamilie. Auch mit unserer gewöhnlichen Kartoffel verbindet sie eine nur äußerst weitläufige Verwandtschaft. Und während jene Knollen ausbildet, wandern bei der Süßkartoffeln Speicherwurzeln in den Kochtopf – was im Grunde aber akademisch ist, denn für den Genuss macht das keinen Unterschied, und stärkehaltig sind auch beide. Die Kulturformen der Süßkartoffel stammen aus Mittelamerika, wo sie bereits vor rund 5000 Jahren angebaut wurde. Ab dem 16. Jahrhundert verbreitete sich die Pflanze vor allem in Südostasien und Afrika stark. Zu uns gelangte sie erst spät, hat aber in den letzten Jahren als „Superfood“ Karriere gemacht, vor allem wegen ihres hohen Gehalts an Vitamin A. Für Gourmets viel spannender ist allerdings ihr kulinarischer Wert: Ihre Süße kommt im Kombination mit warmen Gewürzen wie Zimt, Ingwer oder Piment gut zur Geltung, und sie schmeckt als Püree ebenso gut wie gegrillt, zu Pommes frittiert oder in Currys.
Topinambur
Die Knollen dieser Sonnenblumen-Verwandten sind immer noch ein Exot in unseren Küchen. Es hilft nicht, dass sie unter einer Vielzahl von Namen auftauchen – wer ahnt schon, dass mit Topinambur, Erdartischocke, Jerusalem-Artischocke, Erdtrüffel und Indianerknolle immer das gleiche Gemüse gemeint ist? Auch der Topinambur gehört zu den Lebensmitteln, die aus der Neuen Welt zu uns gelangt sind. Im 16. und 17. Jahrhundert als Nahrungs- und Futterpflanze weit verbreitet, wurde Topinambur in der Folge ähnlich wie die Pastinake durch die Kartoffel verdrängt. Jetzt ist er wieder da und bereichert nicht nur die Hochküche mit seinem intensiv-nussigen Geschmack, der tatsächlich ein bisschen an Artischocken erinnert. Topinambur hat roh einen gewissen Crunch, während er gegart schön cremig wird – in beiderlei Form ist er in der Küche gern gesehen.
Wurzelgemüse auf der Speisekarte
Auf der aktuellen Karte steht die rote Bete ganz am Anfang und ist im Rote-Bete-Carpaccio ein knackiger Einstieg in jedes Menü. Bei den Hauptgerichten ist die Möhre in vielen Varianten ein gern gesehener Begleiter, zum Beispiel in Form von glasierten Möhrchen bei der Perlhuhnbrust oder als bescheidenes Möhrenband für das Zuckerschotenbündchen beim Lammrücken im Tramezzini-Mantel. Optisch und aromatisch steht die Urkarotte bei den Falafelbällchen im Mittelpunkt und setzt einen starken Akzent in dem vegetarischen Gericht. Beim Dry-Aged-Rinderfilet trumpft das Wurzelgemüse als köstliches Ofengemüse auf und bei den Kindergerichten ist es gar nicht wegzudenken.